Mein Leben ist eine „gruusige“ Geschichte – Portrait erstellt von FERI Mit-Wirkung – Februar 2019

Mit diesen Worten beginnt S.K. ihre Erzählung. Ich treffe sie an einem trüben Winternachmittag in Bern. Ihre Geschichte passt zur nass-kalten Stimmung, die das Wetter verbreitet.

Mir gegenüber sitzt eine 75-jährige Frau mit einem bewegten Leben. Sie trägt einen leuchtend pinken Lippenstift und wirkt gepflegt und gebildet. Es ist das erste Mal, dass sie ihre Lebensgeschichte erzählt. Es ist die Geschichte einer Frau, die immer alles nach bestem Wissen und Gewissen machte, aber dabei oft falschen Menschen vertraute und an die falschen Männer geriet.

Ihre Kindheit ist, abgesehen vom alkoholkranken Vater, nicht aussergewöhnlich. Wie zu dieser Zeit üblich, finden die Eltern, dass eine Lehre oder eine andere Ausbildung unnötig ist. Denn es ist selbstverständlich, dass die Tochter heiratet und Hausfrau und Mutter wird. Lediglich ein Haushaltlehrjahr im Welschland absolviert sie. Es ist geprägt von schwerer körperlicher Arbeit. Sie hilft in einer Gärtnerei, erledigt Hausarbeit und kocht täglich für 15 Personen.

Den Vorstellungen der Eltern folgend, heiratet sie mit 23 Jahren einen Mann. Dieser enttäuscht sie von Anfang an. Noch am Tag der Rückkehr aus den Flitterwochen erfährt sie, dass er gleichzeitig noch mit einer anderen Frau verlobt ist. Auch finanzielle Sorgen gibt es da bereits. Ihr Mann erhält das Gehalt jeweils am Freitag bar ausbezahlt und bringt ihr am Wochenanfang nur noch einen Restbetrag nach Hause. Trotzdem wird sie von ihm schwanger. Kurz vor der Geburt steht eine schöne blonde Frau vor der Haustüre und fragt S.K. nach ihrem Ehemann. Diese Frau stellt sich als Verlobte vor und geht davon aus, dass S.K. die schwangere Schwester ist. Nach der Geburt des Kindes erfährt der Ehemann, dass seine Lügen aufgeflogen sind, er erscheint nicht mehr zur Arbeit und taucht ein paar Tage unter.

Aufgrund der Umstände bleibt ihr nichts anderes übrig, als bereits zwei Monate nach der Geburt wieder zu arbeiten. Sie ist bis heute überzeugt, dass die nach der Geburt an einer postnatalen Depression leidet. Doch damals wird diese nicht erkannt und macht ihr das Leben schwer. Auch ihre Ehe wird nicht besser. Sie ist geprägt von Geldsorgen und anderen Frauen.

1970 lässt sie sich scheiden. Das Eherecht aus dem Jahr 1988, das auf der Gleichberechtigung von Mann und Frau aufbaut, existiert zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie erhält im Scheidungsurteil das Kind zugesprochen und Alimente in der Höhe von 90 Franken für das Kind und 110 Franken für sich. Mit der Einschulung des Kindes erlöschen die Alimente an S.K. und es bleiben nur noch die 110 Franken. Damit folgen harte Jahre. Obwohl sie immer arbeitet, bleibt das Geld knapp. Denn auch die Unterhaltszahlungen erhält sie nicht regelmässig. Um ihrer Tochter trotzdem Ferien zu ermöglichen, leitet sie regelmässig Familienlager. Für beide ist es immer eine schöne Abwechslung vom schwierigen Alltag. Es gibt, neben den ausstehenden Unterhaltszahlungen, auch weitere Probleme mit dem Ex-Mann, der seine abgemachten Besuchszeiten nur unregelmässig einhält. Die Tochter ist enttäuscht, wenn der Vater in letzter Minute anruft, um ein geplantes Treffen abzusagen.

Als ihr Ex-Mann erneut verheiratet ist, versucht er, das Sorgerecht für das gemeinsame Kind einzuklagen. Obwohl die Tochter am Ende bei ihrer Mutter bleiben darf, ist diese Zeit für S.K. mit grossem Stress und Angst verbunden. Zum Glück hat sie ein solides soziales Netzwerk und einen Anwalt im Bekanntenkreis, der für sie kämpft.

Mittlerweile arbeitet sie bei einer Brauerei im Sekretariat und verdient 950 Franken pro Monat.  Ihr Gehalt zusammen mit den Alimenten, reicht gerade zum Leben. Ihre Wohnung kostet damals 340 Franken und auch einen Tagesbetreuungsplatz für die Tochter muss sie bezahlen. Mit ihrem Vorgesetzten versteht sie sich sehr gut, sie steht ihm auch während der Krebserkrankung seiner Frau bei. Er findet, dass sie gut auf andere Menschen eingehen kann und rät ihr eine Ausbildung als Sozialarbeiterin zu machen.

Mit 35 Jahren beginnt sie ihre Ausbildung an der Schule für soziale Arbeit in Konolfingen. Diese dauert vier Jahre und ist berufsbegleitend. Sie arbeitet daneben auf einem Sozialdienst. Die Arbeit, das Kind, die Ausbildung, der Haushalt, S.K. bezeichnet diese Jahre als «Chrampf». Sie ist überzeugt, dass sie deshalb heute nicht mehr belastbar ist und fühlt sich verbraucht.

Die Tochter ist mittlerweile erwachsen und S.K. arbeitet wieder Vollzeit. Sie gründet einen betrieblichen Sozialdienst und arbeitet in Kinderheimen, auf dem Jugendamt oder im Sozialdienst. Ab den 80-er Jahre bezahlt sie deshalb auch regelmässig in die 2. Säule für die Altersvorsorge ein. Die volle Freizügigkeit für Pensionskassengelder ist damals jedoch noch nicht geregelt und so verliert sie bei jedem Stellenwechsel Geld. In dieser Zeit lernt S.K. einen Mann kennen und verliebt sich.

Im Jahr ihres fünfzigsten Geburtstags erlebt S.K. ihr Schicksalsjahr. Im April verstirbt ihre Mutter. Ihre Eltern hatten ihr bereits Jahre vorher versprochen, dass S.K. ihr Elternhaus erben wird. Denn den Eltern war bewusst, dass S.K. in schwierigen finanziellen Verhältnissen lebt und im Alter nur eine kleine Rente haben wird. Wenige Wochen nach dem Tod der Mutter erhält S.K. einen Brief, dass ihr Bruder das Haus erben wird und sie lediglich 100’000 Franken erhält. Da sie seit der Trennung von ihrem Verlobten ein Nomadenleben führt und wochentags bei einer Freundin und am Wochenende in einem Kloster lebt, verwendet sie ihr Erbe für den Kauf einer Wohnung. Da sie davon ausgeht, dass sie nun bis zur Pensionierung Vollzeit arbeiten wird, erscheint ihr die Hypothek tragbar.
Das geerbte Haus verkauft der Bruder nach nur wenigen Jahren für fast eine Million Franken. S.K. bittet ihn um einen weiteren Anteil für sie. Ihr Bruder erklärt ihr, dass sie damals diese Vereinbarung unterschrieben hat und damit ihr Anrecht auf einen weiteren Anteil erloschen ist. S.K. hat seither keinen Kontakt mehr zu ihrem Bruder.

Ebenfalls im Jahr ihres runden Geburtstags wechselt sie erneut die Stelle. Und sie gibt ihre Wohnung auf, um fortan gemeinsam mit dem Mann, der seit nunmehr drei Jahren ihr Partner ist, zu leben. Auch eine Verlobung gehört zum neuen Lebensabschnitt. Aber nur kurze Zeit später, sie ist auf dem Heimweg von der Arbeit und will noch einkaufen, sieht sie ihren Mann eng umschlungen und küssend mit einer anderen Frau. Er teilt ihr mit, dass er sich in diese Frau verliebt hat und sie muss die gemeinsame Wohnung verlassen. Sie fühlt sich von diesem Mann schlecht behandelt und bedroht. Die Trennung kostet sie am Ende auch viel Geld. Denn von den gemeinsamen Anschaffungen erhält sie nichts, auch ein Gang vor die Schlichtungsstelle hilft nicht weiter. Während S.K. von dieser Zeit erzählt, schüttelt sie immer wieder den Kopf und meint: «Ich war einfach blind vor Liebe. Ich machte Sachen von denen ich jedem meiner Klienten und Klientinnen als Sozialarbeiterin abraten würde.»

Diese beiden Schicksalsschläge ziehen ihr den Boden unter den Füssen weg. Sie fühlt sich von den Männern enttäuscht und von der Familie hintergangen. Auch bei der Arbeit gibt es Probleme. Sie weigert sich die Altlasten ihrer Vorgängerin beim Sozialdienst innerhalb eines Jahres aufzuarbeiten. Die Arbeitsmenge ist zu gross und S.K. tut sich auch schwer, dass sie Menschen mit Rückforderungen belasten muss, die ihre Vorgängerin über Jahre nicht geltend gemacht hat. So kommt es zu gegenseitigen Vorwürfen und zum Zerwürfnis, das in der Kündigung endet. Nun gibt es erneut Probleme mit der Pensionskasse. Der Gemeindeammann, der auf ihrer Seite ist und ihr helfen will, stirbt an einem Aorta-Riss. Der Anwalt, der sie unterstützt, erleidet beim Joggen einen Herzinfarkt. Deshalb geht ihr Kampf um das Pensionskassengeld nur schleppend voran, sie wird immer wieder vertröstet und verliert am Ende einen grossen Teil des Geldes. Sie sagt, dass ihr zu dieser Zeit das Leben «total verleidet».

Jetzt kommen auch noch gesundheitliche Probleme. Schon seit vielen Jahren leidet sie untern Rückenproblemen, die sie teilweise auch auf die schwere körperliche Arbeit im Welschlandjahr zurückführt. Die Beschwerden sind nun viel stärker und eine grosse Rückenoperation ist unumgänglich. Nach der Operation braucht sie für ein Jahr Tag und Nacht ein Stahlkorsett. Der Arzt meldet sie bei der IV an, obwohl sie eigentlich lieber arbeiten will.

Sie macht eine Ausbildung zur Katechetin und hat so als Religionslehrerin ein kleines Einkommen. Sie ist auch politisch aktiv und sogar im Kantonsrat ihres Heimatkantons. Daneben arbeitet sie im Stundenlohn als Mutterschafts- oder Krankheitsvertretung im Sozialdienst. So kommt sie finanziell immer über die Runden. Aber als sie mit 58 Jahren an Krebs erkrankt und ihr eine Niere entfernt werden muss, schafft sie auch diese Arbeit nicht mehr. Sie tritt auch aus dem Kantonsrat zurück und erhält fortan eine IV Rente. Sie erhält die Hälfte des Lohns, der ihr an ihrer letzten festen Stelle bezahlt wurde. Das Geld reicht nicht mehr, sie kann nicht mehr alle Rechnungen bezahlen. S.K. entschliesst sich zum Verkauf ihrer Eigentumswohnung, leider unter Wert. Aber sie hat riesige Selbstbehalte aus der Krankheit, die sie bezahlen muss und dadurch ist sie auch bei den Steuern im Rückstand.

Mit dem Eintritt ins Rentenalter erhält sie eine volle AHV-Rente und eine Rente aus ihrem Pensionskassenguthaben. Trotzdem bleibt es finanziell eng, aber bis ins Jahr 2014 geht es schlussendlich immer auf. Nach einem Zusammenbruch in diesem Jahr erleidet sie einen Bandscheibenvorfall. Trotz Krankenversicherung bleiben 22’000 Franken Selbstbehalt. In Absprache mit der Krankenkasse, kann sie ihren Selbstbehalt in Raten abbezahlen. Leider erreicht ihr Steuerberater trotz vollständiger Unterlagen nicht, dass dieser Betrag von ihrem steuerbaren Einkommen abgezogen wird. Wäre es anders und würde er abgezogen, müsste sie deutlich weniger Steuern bezahlen. Leider fällt aber die Steuerrechnung hoch aus und Schulden wachsen an. Dagegen hat sie auch beim Kanton Einsprache erhoben, leider erfolglos. Sie fühlt sich am Ende und ist überzeugt, dass sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat.  Ein Kollege erreicht, dass sie wenigstens keinen Eintrag im Betreibungsregister hat. S.K. versucht nun seit 5 Jahren ihrer Schulden Herr zu werden. Mit ihren Steuerraten ist sie etwa drei Jahre im Rückstand, sie zahlt jeden Monat 300 Franken zurück.

Aufgrund ihrer Rückenbeschwerden erleidet S.K. in der Folgezeit verschiedene Unfälle und Stürze. Sie erleidet eine Hirnerschütterung, das Gefühlsempfinden in einem Bein ist gestört und sie muss sich an der Schulter operieren lassen. 2016 erfolgt ein Bandscheibenvorfall, der im Jahr darauf notfallmässig operiert werden muss, sonst droht ein Leben im Rollstuhl. Dies bedeutet vier Wochen Spitalaufenthalt für S.K.. Bis heute muss sie jeden Tag ein Korsett tragen. Die Linsen für den Grauen Star und ihre Gesundheitsschuhe sind weitere zwei Sachen aus dieser Zeit, die die Krankenkasse nicht bezahlt und ihre Finanzen belasten. Auch ein neues Hörgerät ist dringend nötig, denn Hörprobleme liegen bei ihr in der Familie. Eine Tante und auch ein Enkel von S.K. sind taub. Das billigste Gerät kostet 2’500 Franken und niemand will für die Kosten aufkommen. So probiert sie an allen Ecken und Enden zu sparen. Pro Woche hat sie ein Haushaltsgeld von 50 Franken zur Verfügung. Ihre Kleider näht sie selbst. Aber seit der letzten OP ist sie körperlich eingeschränkt und hat sich nie mehr richtig erholt.

«Ich habe keine Energie mehr, um mich weiter aufzulehnen und zu wehren. Ich will mich einfach nicht bevormunden lassen, denn ich gehe richtig mit dem Geld um und ich bin intelligent. Zum Glück konnte meine Tochter eine gute Ausbildung machen und hat ein glückliches Familienleben!»

Ein Kommentar zu „Mein Leben ist eine „gruusige“ Geschichte – Portrait erstellt von FERI Mit-Wirkung – Februar 2019

  1. Und das in einem Land mit zig Milliardären und einem Wohlstand der seinesgleichen sucht….! Danke für das öffentlich machen solcher Geschichten und Schicksale. Es soll und muss gesellschaftliche und politische Konsequenzen haben.

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