Armut bewältigen – von Ueli Mäder – April 2018

Armut bewältigen, statt Arme bekämpfen

Armut ist ein Mangel an sozialer Sicherheit. Sie lässt sich bewältigen. In der Schweiz sind genügend Mittel vorhanden. Was fehlt, ist der politische Wille. Davon zeugen jüngste Parlamentsbeschlüsse. Sie wollen sparen, egal, was es kostet.

Im Frühjahr 2018 kürzte der Nationalrat bei den Ergänzungsleistungen den anrechenbaren Bedarf für Kinder. Und der Kanton Bern senkte generell den Grundbedarf bei der Sozialhilfe. Andere Kantone ziehen nach. Sie bekämpfen die Armen, statt die Armut. Dazu passt das vorgezogene nationale Gesetz, das die Invaliden- (IV) und Unfallversicherung (SUVA) sowie die Ausgleichs- und Krankenkassen ermächtigt, ihre „Kunden“ zu bespitzeln.

Wer so spart, spart nicht

Die Sozialhilfe übernimmt, was vorgelagerte Systeme der sozialen Sicherheit abwälzen. Weil die Arbeitslosenversicherung (ALV) die Bezugsdauer verkürzt, entstehen Mehrkosten bei der Sozialhilfe. Bei ihr  verlängert sich nun in einigen Fällen die Bezugsdauer. Wer so spart, spart nicht.

Restriktive Revisionen der ALV und IV überfordern die Sozialhilfe. Bei der ALV beschleunigen engere Unterstützungszeiten für unter 25-Jährige die Aussteuerungen. Bei der IV wirken tiefere Neurenten und die forcierte Eingliederung eher desintegrativ. Hinzu kommen die reduzierten Vergünstigungen bei den Krankenkassen-Prämien. Sie erhöhen die Gesundheitskosten bei der Sozialhilfe. Übersteigerte Mietkosten belasten die Sozialhilfe ebenfalls, die so private Gewinne subventioniert. Fast ein Drittel der Sozialhilfe fliesst direkt in den Wohnungsmarkt.

Der Bundesrat erwähnt in seinem letzten Bericht zu den Kosten der Sozialhilfe häufige Scheidungen. Sie erhöhen die Zahl der Alleinlebenden und -erziehenden. Zudem die Mietkosten bei der Sozialhilfe. Vor allem auch für Kinder. Der Bundesrat erwähnt ebenfalls, wie die Sozialhilfe niedrige Einkommen kompensiert. Ein Drittel der Sozialhilfe-Abhängigen sind erwerbstätige Arme. Die Sozialhilfe stabilisiert damit unfreiwillig (zu) tiefe Löhne. Was Schwächen ausgleichen sollte, verfestigt sie. Neue technologische Anforderungen erschweren ferner den (Wieder-)Einstieg in die Erwerbsarbeit.

Integration statt Ausschluss

Hilfreich sind gute Ausbildungen und Beratungen. Sie verbessern die Chancen der Integration, sofern der Arbeitsmarkt mitspielt.

Als wir 1991 die Basler Armutsstudie vorlegten, schuf die Sozialhilfe die Sozialdetektive ab. Mit mehr Beratung liess sich die Unterstützungsdauer verkürzen. 5‘500 Franken benötigte eine Friseuse, um sich zur Visagistin umzuschulen. Sie verdient nun mehr und benötigte keine weitere Sozialhilfe. Gleichwohl sind vielerorts Detektive (wieder) auf Spurensuche. Sie sollen die populistisch aufgebrachte Volksseele beruhigen. Das intensivierte Bespitzeln schürt jedoch weitere Ressentiments.

Kürzungen sozialer Leistungen und entmündigende Kontrollen von Versicherten sind kontraproduktiv. Sie unterlaufen die soziale Integrität und Zugehörigkeit. Soziale Leistungen unterstützen Menschen, die darauf angewiesen sind. Sie tun dies gezielt und wirkungsvoll. Wichtig sind daher genügend Mittel. Auch für eine Beratung, die die Integration fördert. Wer Missbräuche aufdecken und Geld sparen will, kontrolliert lieber, wie Begüterte ihre Steuern optimieren. Aber wir wollen ja keinen Schnüffelstaat. Erfreulich ist daher das Referendum, das zivil Couragierte gegen das entmündigende Überwachen ergriffen haben.

Ueli Mäder

Ueli Mäder ist emeritierter Professor für Soziologie. Von ihm ist soeben das Buch „68 – was bleibt?“ erschienen. Die Vernissagen sind am 15. Mai um 19h im Basler Volkshaus. (Anmeldung: Literaturhaus) und am 29. Mai um 20h im Zürcher Kulturzentrum Kosmos.

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