Die Geschichte von Frau S. – Portrait erstellt von FERI Mit-Wirkung – August 2018

Die neue Verfügung war schlimmer als die Krebsdiagnose!

Der Anfang

Der Anfang ist nicht ungewöhnlich: eine junge Frau, die eine Anlehre als technische Zeichnerin macht, heiratet, 2 Kinder bekommt und während ihrer Ehe Hausfrau ist. Nach 15 Jahren erfolgt die Scheidung und damit die Notwendigkeit, wieder eine Arbeitsstelle zu suchen.

Danach wird es schwierig. Denn der gelernte Beruf ist vom Arbeitsmarkt verschwunden. Frau S. lässt sich überzeugen ohne Weiterbildung eine andere Arbeit anzunehmen und wird Kassierin. Wenigstens eine 60% Anstellung und ein sicheres Einkommen, das ist aus ihrer Sicht besser als stellenlos zu sein. Nun wird es aber noch schwieriger. Die neue Arbeit verursacht Rückenbeschwerden. Trotz regelmässiger Behandlung und Physiotherapie werden diese immer schlimmer. In den siebeneinhalb Jahren als Kassierin wird Frau S. dreimal für längere Zeit krankgeschrieben. Sie kann jeweils für zwei bis drei Monate nicht arbeiten. Nach der dritten Krankschreibung, die sie teilweise in einer Rehaklinik verbracht hat, kann Frau S. nur noch eine Stunde am Stück an der Kasse sitzen, danach werden die Schmerzen zu stark. Ihr Arbeitgeber will ihr die Stelle kündigen und empfiehlt ihr, dies doch besser selbst zu machen. Denn laut Arbeitgeber werden damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht. Diesen Rat befolgt sie und ist nun stellenlos. Auch eine Abklärung bei der IV ist niederschmetternd. Man empfiehlt Frau S., sich eine leidensangepasste Tätigkeit zu suchen und schreibt sie zu 100% als Verkäuferin arbeitsfähig. Mit diesen Voraussetzungen ist es unmöglich, eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt zu finden.

2012 nimmt Frau S. an einem Beschäftigungsprogramm teil. Es ist eine Montage- und Konfektionierungstätigkeit, bei der immer die gleichen Bewegungen in der gleichen Sitzhaltung ausgeführt werden müssen. Dadurch verschlimmern sich ihre Beschwerden trotz Physiotherapie und statt der geforderten 30 Stunden kann sie nur 12 Stunden pro Woche arbeiten. Diese verteilt sie auf drei Halbtage und trotzdem ist die Tätigkeit so schmerzhaft, dass sie das Ende des Programmes kaum erwarten kann. Nach einem halben Jahr ist es soweit, aber trotzdem ist keine ihrer Bewerbungen erfolgreich. Entweder fehlt die Weiterbildung, man kann ihr die nötige Abwechslung nicht gewährleisten oder die Absage erfolgt ohne Begründung. Auch nach ihrem Ausscheiden nach viereinhalb Jahren beim RAV gibt Frau S. nicht auf und geht für ein weiteres Jahr auf Stellensuche. Leider ohne Erfolg. Mittlerweile vollständig abhängig vom Sozialamt, kann sie die steten Absagen nicht mehr ertragen und resigniert. Das Sozialamt stellt keine Forderungen bezüglich Arbeitssuche, gewährt aber auch keine Unterstützung.

Dieses Leben bringt weitere Folgen mit sich: Frau S. meldet sich immer weniger bei ihren Freunden und Bekannten, die Menschen aus ihrem Umfeld ziehen sich zurück. Scham wird zu einem dominanten Gefühl. Sie sagt, dass man sich für seine Situation schämt, obwohl man doch eigentlich schuldlos ist. Sie nimmt an, dass viele denken, dass Sozialhilfebezüger einfach zu faul zum Arbeit sind. Sie will und kann nicht mehr am sozialen Leben teilnehmen. Denn neben den gesundheitlichen Problemen ist es auch finanziell eng. Leistet man sich etwas Spezielles, muss es anderswo, beispielsweise bei den Kleidern, eingespart werden. So verliert sie nicht nur ihren ohnehin schon kleinen Freundeskreis, sondern will auch keine neuen Menschen mehr kennenlernen. Denn die Frage nach der Arbeit steht oft am Anfang einer neuen Bekanntschaft. Heute sind ihr, nach eigener Aussage, keine Freunde mehr geblieben, sondern nur einige wenige Bekannte.

Neue Schicksalsschläge

Dann kommt im Herbst 2017 die Diagnose Brustkrebs. Erneut beginnt ein Kampf, aber Frau S. hat immer das Gefühl, dass sie diese erneute gesundheitliche Herausforderung meistert. Denn es sind immer noch die Rückenbeschwerden, die ihr das Leben wirklich schwer machen.

Der nächste Schlag lässt nicht lange auf sich warten. In diesem Jahr erhält sie eine neue Verfügung vom Sozialamt. Ihre Aussage, dass dies viel schlimmer für sie ist als die Krebsdiagnose, macht mich betroffen. Sie verdeutlicht wie nahe diese Verfügungen den Sozialhilfeabhängigen gehen. Irgendwo in einem Büro werden neue Zahlen und Grenzwerte festgelegt und niemand macht sich Gedanken, was dies für die Betroffenen und ihren Alltag bedeutet.

Die Verfügung enthält verschiedene Punkte. Ein sehr belastender Punkt ist die Wohnungssituation. Nachdem die Mietzinsobergrenze auf 850 Franken gekürzt wurde, liegt die Miete von Frau S. 173 Franken über dem Grenzwert und wird zukünftig nicht mehr übernommen. Sie muss nun monatlich ihre Wohnungsbewerbungen als Beweis einreichen, damit die Miete weiterbezahlt wird. Doch die Suche ist beschwerlich. Zum einen sind nicht viele billige Wohnungen auf dem Markt und es ist auch aus gesundheitlicher Sicht schwierig. Bei der letzten Besichtigung waren 23 Interessenten anwesend. Bei einem solchen Andrang ist die Besichtigung mit Wartezeiten und langem Stehen verbunden, was für Frau S. sehr belastend ist. Aber auch ein möglicher Umzug macht ihr Angst. Sie ist darauf angewiesen, dass die neue Wohnung im Erdgeschoss liegt oder einen Lift hat. Ausserdem braucht sie eine Badewanne, denn anders ist Haarewaschen für sie nicht möglich. Und wenn man unter schweren Rückenbeschwerden leidet, scheint das Zusammenpacken eines ganzen Hausrates schier unmöglich.

Die Verfügung verlangt ausserdem ein detailliertes Arztzeugnis über alle ihre gesundheitlichen Beschwerden und zusätzlich monatlich ein aktuelles Arbeitsunfähigkeitszeugnis.

Seit 2011 werden Frau S. wegen ihrer Fussbeschwerden Spezialschuhe bezahlt. Diese kosten zwischen 280 und 320 Franken. Sie hat viele verschiedene Einlagen und Sohlen ausprobiert. Aber nur diese Schuhe erleichtern ihr das Gehen und helfen auch ein wenig gegen die Rückenbeschwerden. Nun sollen diese Schuhe zukünftig nicht mehr von der Sozialhilfe übernommen werden. Frau S. hat Angst davor, was wird, wenn sie sich diese Schuhe nicht mehr erhält. Selber kaufen ist keine Option. Denn sie gibt bereits monatlich 150 Franken für alternative Gesundheitsprodukte aus, die ihre Schmerzen und Magendarmbeschwerden erträglich machen. Bezahlt werden diese von der Sozialhilfe nicht, denn sie sind nicht vom Arzt verschrieben. Und damit sind ihre finanziellen Möglichkeiten erschöpft.

Das Sozialamt droht mit Sanktionierungen oder Einstellung der Zahlungen, wenn Frau S. ihre Auflagen nicht fristgerecht erfüllt. Dank avenir50plus (www.avenir50plus.ch) konnte eine Juristin der UFS (Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht) vermittelt werden, die Frau S. bei ihrer Einsprache unterstützt. Sie selber könnte sich gar keine juristische Hilfe leisten.

Alltag und Zukunft

Heute sieht ihr Alltag so aus, dass sie oft alleine spazieren geht. Viel Zeit verbringt sie auch mit Fernsehen und im Internet. Ab und zu kommen die Kinder vorbei oder laden sie zum Essen ins Restaurant ein. Daneben ist sie oft alleine. Hin und wieder fährt sie mit dem Tram in die Stadt, einfach um sich ein bisschen umzuschauen und unter den Leuten zu sein.

Welche Wünsche bleiben für die Zukunft? Eine Frühpensionierung ist für Frau S. im April 2020 möglich. Ihr grösster Wunsch ist, dass sie als Frühpensionierte ruhig und sicher leben kann, ohne immer Angst vor neuen Verfügungen oder Rückzahlungsforderungen zu haben. Aber eigentlich höre ich bezüglich Zukunft vor allem das Wort Angst. Angst davor, was als nächstes kommt. Angst davor, dass das Sozialamt Rückzahlungen fordert, sobald sie Ergänzungsleistungen erhält. Angst davor, dass die Leidensgeschichte auch mit der Frühpensionierung nicht aufhört und immer weitergeht.

Frau S. fühlt sich in unserem Sozialsystem nicht gut aufgehoben. Neben den finanziellen Problemen fühlt sie sich drangsaliert und alleine gelassen. Sie wünscht sich, dass Betroffene in einer solchen Situation besser vom System aufgefangen werden, finanziell und menschlich.

Wir veröffentlichen diese Geschichte anonymisiert. Die Angst vor Stigmatisierung und Scham vor ihrer Situation begleiten Frau S. schon seit vielen Jahren. Nicht einmal ihre Nachbarn wissen von ihren Lebensumständen. Sie erzählt, dass sie deshalb auch schon gelogen hat. Als sie in einem Gespräch zu einer Antwort gedrängt wurde, hat sie gesagt, dass sie IV-Bezügerin ist. Aber lieber geht sie solchen Begegnungen ganz aus dem Weg.

Ich hoffe, dass der Wunsch von Frau S. nach einem ruhigen und sicheren Alltag spätestens mit der Frühpensionierung in Erfüllung geht und die Gefühle von Angst und Scham nicht mehr ihre ständigen Begleiter sind. Auch für ihre Gesundheit wünsche ich ihr alles Gute und danke ihr für ihre Offenheit im Gespräch.

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