Eine Art Sozialpolitik von Oswald Sigg, Mai 2019

Am 19. Mai 2019 steht im Kanton Bern die Sozialhilfe-Vorlage zur Volksabstimmung an, welche die Handschrift des Regierungsrats Pierre-Alain Schnegg trägt. Bei der Lektüre kommen mir unweigerlich Szenen aus der Zürcher Sekundarschule Mitte der 50er Jahre hoch. Der strenge Lehrer praktizierte ein perfides Lernsystem. Aufgaben nicht gemacht: zwei Tatzen (das waren harte Schläge mit scharfkantigem Lineal auf den rechten Handballen). Schulstunde geschwänzt: drei Tatzen. Kleine Verfehlungen wie Schwatzen oder unaufmerksam sein während der Schulstunde: der Lehrer zog einem an den Haaren vor die Klasse. Oder er schoss das Lineal in die hinterste Sitzreihe, wo er Unruhe vermutete. Gewalt in der Schule.

Regierungsrat Schnegg ist Vorsteher der Gesundheits- und Fürsorgedirektion. Der alte Ausdruck „Fürsorge“ mag heute „soziale Sicherheit“ bedeuten. Aber eigentlich war die Grundlage der Fürsorge immer „die weltanschaulich und politisch verschieden begründete Überzeugung, dass die Menschen für ihre hilfebedürftigen Menschen verantwortlich sind.“ (Schweizer Lexikon, Zürich 1946) Nun wartet paradoxerweise das geänderte Sozialhilfegesetz mit Massnahmen auf, die hilfebedürftige Menschen – das sind Kinder, Flüchtlinge und Arbeitslose, kurz: die Schwachen unserer Gesellschaft – einem Zwangsregime aussetzen werden. Den Sozialhilfe-Bezugsberechtigten wird der finanzielle Grundbedarf um 8 bis 15 % gekürzt. Dazu gehören Kinder und Jugendliche (unter 18 Jahren) und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge. Bedürftige Personen sowie vorläufig Aufgenommene, die weder einer Ausbildung noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, erhalten zur Strafe den Grundbedarf an finanzieller Unterstützung um 30 % gekürzt. Dasselbe gilt für sozialhilfeberechtigte Personen, die nach einem halben Jahr immer noch keine „erforderlichen Kenntnisse“ der deutschen oder der französischen Sprache haben. Administrative Gewalt.

Dieses revidierte Gesetz ist Teil einer 20-jährigen Politkampagne der systematischen Ausgrenzung und Hetze gegenüber den Schwächsten in der Gesellschaft. Sie sind Schmarotzer, Sozialtouristen und Scheininvalide. Das Schlechtmachen der sozialen Unterstützung, im Fachjargon „Stigmatisierung“ genannt, bewirkt vor allem in ländlichen Gegenden den sogenannten Nichtbezug von Sozialhilfe. Der Soziologe Oliver Hümbelin, wissenschaftlicher Mitarbeiter der BFH im Bereich Soziale Sicherheit, hat 2016 eine Studie über den Nichtbezug von Sozialhilfe veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass im Kanton Bern im Durchschnitt jede vierte, sich in einer Notlage befindliche Person auf den Bezug von Sozialhilfe verzichtet. Dieser Viertel ist aber eine Dunkelziffer. Es gibt andere Schätzungen, die landesweit bis zur Hälfte der Anspruchsberechtigten geht, die aus Angst und Scham schon gar nicht mehr auf den Sozialämtern erscheint.

Wie auch immer, was zählt, ist letztlich das Resultat: die Senkung der Sozialkosten. Erzielt durch eine Art politischer Gewalt.

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