Bin ich «Leidi» oder Lady? – Ich habe Arme, bin ich arm?

von Rita Renata Baschung, Donnerstag, 8. August 2019


«Sind Sie über 50 und seit Längerem auf Arbeitssuche? Oder müssen Sie Ihr Leben mit einem Tieflohn meistern?» Bin ich «Leidi» oder Lady? – Ich habe Arme, bin ich arm?

Mit 57 Jahren Kündigung des Hauptverdienstes. Besuch des Arbeitsamtes insgesamt um zehn Jahre herum. Nach 2000 Bewerbungskontakten Schluss gemacht mit Statistikführung. Mehrmals auf dem Sozialamt. Finanziell fast ein Leben lang an der Kippe. Aussicht: um 400 Franken Pensionskassengeld pro Monat, AHV in minimalstem Rahmen. Trotzdem: Würde ich es anders machen wollen, wenn ich Vergangenes zu ändern vermöchte? Nein. Jedoch nicht, weil es mir Spass gemacht hätte zu den erwähnten Ämtern zu gehen. Diese Ämter – das war eine Konsequenz meines Lebensweges, die ich nicht
hatte voraussehen können.

«Du hast schon immer genau gewusst, was du wolltest», meint meine Mutter, erinnert sich noch mit 90 Jahren daran, dass ich als Baby mit nichts dazu zu bringen war, einen anderen Nuggi-Aufsatz beim Schoppen anzunehmen, als jenen, den ich im Spital gehabt hatte. Ich bin durch sie und ihre künstlerischen Tätigkeiten in einem sehr kreativen Umfeld aufgewachsen. Ich liebte das Gestalten, hatte schon immer eigene Ideen, wurde von allen Seiten, d.h. von meiner Mutter, von meinen Lehrpersonen, von meinen Mitschülerinnen und von Gästen, die zu Besuch kamen, für meine Werke bewundert und gelobt. «Den Seinen gibts der Herr im Schlaf», meinte eine Freundin meiner Mutter über meinen Farbsinn in der Gestaltung. Ich gewann den ersten Preis bei einem Malwettbewerb. Immer wieder wurde gesagt, ich würde bestimmt Künstlerin. Und davon ging auch
ich aus, wünschte es mir, besuchte später eine Kunstschule, war stolz darauf, dass ich schon in der ersten von drei Aufnahmerunden aufgenommen worden war, als eine der zwei Jüngsten, direkt nach der offiziellen Schule. Lehrende dieser Schule meinten nach Abschluss des Vorkursjahres, ich sollte als Künstlerin tätig werden, einer erklärte, Werke
von mir würden ihn an den Künstler Kokoschka erinnern.

Künstlerin ist ein brotloser Beruf, hiess es danach in der Familie, damit wirst du nie im Leben existieren können. Du glaubst doch wohl nicht, du würdest Bekanntheit erlangen? Und glaube nicht, dass dich irgendjemand unterstützen wird, falls du dich trotzdem für einen solchen Weg entscheiden solltest, wir bestimmt nicht. Ich wusste mir nicht zu helfen, nach einer Zeit des Putzens (Kinderhüten war ausgeschrieben gewesen) und danach wirklich Kinderhüten, stimmte ich zu, eine kaufmännische Lehre zu absolvieren. Diese schloss ich erfolgreich ab. In der Lehrzeit fand ich die grösste Befriedigung in der Berufsschule in sprachlichen Aufgaben. Der Deutschlehrer zeigte deutlich seine Begeisterung über meine Aufsätze. Meine Mitschüler sagten zu mir, ich würde ganz bestimmt Schriftstellerin werden. Und das konnte ich mir auch vorstellen, hatte ich doch schon in der vorangegangenen Schulzeit stets beste Kritiken erhalten für meine Aufsätze, konnte sie sehr häufig vor der Klasse vorlesen, und ich bekam regelmässig Preise für meine Vorträge.

Nach der Lehre wollte ich zur Kunst zurück. Dazu, wie ich es angehen könnte mit dem Schreiben, hatte ich keine Vorstellung. Ich besuchte eine weitere Kunstschule, bis mir das Geld dafür ausging und ich eine Anstellung im kaufmännischen Bereich annahm. Ich konnte das Arbeitspensum reduzieren und machte gleichzeitig Kunstausstellungen (verkaufte dabei immer wieder Bilder) und verschiedene Veranstaltungen und Produktionen für Freunde, zumeist ohne Entgeld. Als eine Freundin mit einer Schreibausbildung begann, animierte mich dies, dieselbe ebenfalls anzugehen, und ich hatte sehr viel Freude an diesem mehrjährigen Lehrgang. Ich kombinierte Malen und Schreiben, versuchte jedoch vergeblich, damit irgendwo einen Einstieg zu finden. Und in derselben Art ging es weiter im Leben. Erwachsenenbildungsausbildung, Psychodramaausbildung, Massageausbildungen, Weiterbildung um Weiterbildung. Sehr viel praktische Erfahrung in allen Bereichen. Dann Bewusstwerdungsarbeit, 13 Jahre lang. Ich wurde mir meines reichen Erfahrungsschatzes bewusst.
Ich bewarb mich als delegierte Therapeutin für die Arbeit im nonverbalen Bereich. Die Ärztin fand, dass sie mich gerne anstellen würde, dass ich aber ein Gesuch um Gleichwertigkeitsanerkennung für meine Ausbildungen stellen müsste. Nach monatelangem Zusammenstellen meiner Unterlagen aus mehr als zehn Jahren von verschiedenen Ausbildungen und Ausfüllen vieler Formulare reichte ich mein Gesuch bei der Ärztegesellschaft ein. Als Antwort erhielt ich ein Schreiben, in welchem stand, ich habe wohl gute Grundlagen, aber nicht die offiziell gewünschte Ausbildung, weshalb mein Gesuch nicht gutgeheissen werden könne. Ich schaute, ob es noch möglich sein könnte in meinem Alter eine solche offizielle Ausbildung nachzuholen. Es hätte jedoch bedeutet, dass ich die Ausbildung abgeschlossen hätte im Pensionierungsalter, sodass dies mit grosser Wahrscheinlichkeit ein weiterer Ausschlussgrund gewesen wäre. Im Therapiebereich erhielt ich die Zusage, dass ich in einem Team im Sprachbereich mitwirken könne, Texte redigieren könne. Zuvor hatte ich Texte probehalber bereits im Auftrag dieser Institution redigiert, wofür ich eine positive Rückmeldung erhalten hatte. Es ging nur noch um die Datumsfestlegung des Arbeitsbeginns. Da kam von Mitgliedern dieser Institution die Mitteilung, da ich nicht ihre Ausbildung absolviert habe, würden sie mich nicht für diese Arbeit einsetzen wollen. Als Letztes eine saloppe Meldung des Mitglieds, das mir zuvor den Arbeitsbeginn bestätigt hatte, es sei da wohl enges Denken im Spiel bei seinen Kollegen (keine Entschädigung für meine geleistete Arbeit und für das Treffen mit Besprechung). Vorweisen von zehn bis zwölf Bewerbungen pro Monat als Arbeitsbemühungen für das Arbeitsamt. Selbstständige Arbeit. Anstellung im Teilzeitpensum im Stundenlohn mit Abrechnungen. Suchen freier Stellen, suchen weiterer selbstständiger Arbeit, überlegen von Alternativen, Zuweisungen des Arbeitsamtes. Ausfüllen Formular Zwischenverdienst bezüglich Arbeitgeber, ausfüllen Formular Zwischenverdienst für selbstständige Arbeit, Rechnungen speziell für Arbeitslosenkasse erstellen nebst den versendeten Rechnungen für Auftraggebende, weil die Kasse exakt im entsprechenden Monat abgerechnet haben will, Auftraggebende aber nicht schon eine Rechnung bloss für eine halbe Stunde Arbeit wollen. Formular von Seco, Formular von Arbeitsamt. Abrechnungen mit SVA. Betreibung von SVA, Gang zu Betreibungsamt, Rücknahme der Betreibung, da nicht gerechtfertigt. Auflage Arbeitsamt, nicht nur Anzahl Bewerbungen muss stimmen, es müssen auch bestimmte zeitliche Abstände im Schreiben der Bewerbungen stimmen. Rückmeldung in Absage nach Vorstellungsgespräch beim bisherigen Arbeitgeber in einer anderen Abteilung: Es gehe nicht, dass ich meine prekäre finanzielle Situation in einem Vorstellungsgespräch erwähne. Offenbar auch nicht in Berücksichtigung dessen, dass ich während mehr als zehn Jahren in diesem Betrieb gearbeitet hatte und mir bestätigt worden war, dass ich immer sehr gute Arbeit geleistet habe.

Bewerbungen, Bewerbungen, Bewerbungen, tage-, wochen-, monate-, jahre-, jahrzehntelang. Absagen, Absagen, Absagen, tage-, wochen-, monate-, jahrelang, jahrzehntelang. Bewerben, eine Arbeit wie jede andere? Die Beraterin des Arbeitsamtes meinte: Ganz in unserem Sinn, dass Sie ständig mit Bewerbungen beschäftigt sind und mit den Formularen. Und Familienmitglieder: In der Schweiz muss man sich um niemanden Gedanken machen, da wir Ämter haben, die sich kümmern. Du sagst, du willst nicht zum Sozialamt? Du hast das zugute! Ich habe das Sozialamt zugute? Dann schreibe ich wieder: «Gerne sende ich Ihnen … auf Ihre Antwort freue ich mich.» Und in mir schreit es: Wann, wann, wann hört das endlich auf? Und ich sehe das Bild der Frau vor mir, die vielleicht zehn Runden gedreht hat, sich krampfhaft bemühend zu hüpfen, mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen und ständig die Worte wiederholend: «Ich freue mich, ich freue mich.» Und dennoch: Ich möchte nach wie vor nicht tauschen mit jenen, die ein Leben lang zu hundert Prozent angestellt ausführend tätig sind. Jede kleine Zeit, die mir bleibt, in der ich eine Prise meiner eigenen Gedanken in meine Tätigkeit bringen kann, ist für mich ganz besonders wertvoll.

Vielleicht fanden mich einige eine «Leidi», weil ich es nicht immer schaffte, in eine «normale » finanzielle Lage zu kommen, andere zu sehr «Lady», weil sie meine Sehnsucht, meine Kreativität leben zu können, als zu anspruchsvoll einschätzten. Nun, ich habe zwei Arme, bin in diesem Sinn nicht arm, vielleicht schaffe ich es noch für den Rest des Lebens, das an die Hand zu nehmen, was mir wirklich Freude bereitet: Nichts mehr wollen – einfach sein, kreativ, nehmend, was sich bietet. Inspirierend, wo anklingt, was aus mir heraus sich zeigt.

3 Kommentare zu „Bin ich «Leidi» oder Lady? – Ich habe Arme, bin ich arm?

  1. Vielen Dank für diesen Text – es geht leider zu vielen Menschen genau so. Unsere moderne Welt empfinde ich als sehr lebensfeindlich. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Mir schwebt deshalb ein Systemwechsel vor. „Postkapitalismus“. Geld müsste genau so fliessen wie Wasser oder Energie. Niemand dürfte Geld mehr horten können. Die 1. Million müsste leichter zu erreichen sein, als die Dreissigste. Geld müsste immer wieder neu verteilt werden. Denn Arbeit gibt es genug – es darf auch im Hinblick auf die Ressourcen niemand mehr zur Arbeitssklaverei gezwungen werden. Jeder soll seine Talente leben können.

  2. Danke für den Einblick in das Leben dieser Frau. Welch Potential unserer Gesellschaft verloren geht, weil viele Menschen machen, was sie nicht wollen. Und wie viel Qualtität unserer Gesellschaft verloren geht, weil wir in unflexiblen Strukturen denken und verharren. Mit Grundeinkommen wäre die Möglichkeit geschaffen, die individuelle Kreativität zu leben, es wäre menschenfreundlich, kostengünstiger als das jetzige System und würde unserer Gesellschaft einen wichtigen Entwicklungsschub geben.

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