Die reiche Schweiz und die Armut

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Armut und Working-Poor sollte in diesem Staat kein Thema sein. Jeder Mensch sollte genug Lohn für seine Arbeit erhalten, damit er finanziell unabhängig leben kann. Die Wahrheit sieht indes anders aus.
Von Urs Berger, in Zusammenarbeit mit dem VfsG

Die Spirale in die Armut beginnt oft mit einer Kündigung. Der Gang auf die Regionale Arbeitsvermittlung (RAV), das Anmelden bei der Arbeitslosenkasse und die damit verbundene Kürzung des Einkommens um mindestens 30% trifft viele hart. Zu Beginn denkt die betroffene Person, dass die Aussicht auf eine neue Beschäftigung gut sei. Entsprechend motiviert schreibt er/sie seine Bewerbungen, besucht Kurse des RAV (bspw. wie man sich im heutigen Zeitalter bewirbt) und setzt das Gelernte um. Hat er/sie Glück, dann kann die Person in zumutbarer Zeit eine neue Anstellung finden. Das ersparte Geld ist zwischenzeitlich geschrumpft um den Lebensstandard zu halten. Oder schlimmer, es ist aufgebraucht!
Die Taggelder der Arbeitslosenversicherung sind spätestens nach 400 Tagen aufgebraucht. Hat die arbeitslose Person keine neue Stelle gefunden, droht der Gang auf den Sozialdienst der Gemeinde. Konnte bisher auf mindestens 70% des versicherten Verdienstes gezählt werden, zahlt die Sozialhilfe viel weniger. Kann die Person damit umgehen, dass sie mit weniger als CHF 1000.— pro Monat leben muss? Der tägliche Kampf ums (über)Leben hat begonnen.
Kampf mit der Sozialhilfe – jeder Rappen muss erkämpft werden
Nein, die Sozialhilfe ist nicht gerecht. Jeder Tag ist ein Kampf mit sich selbst, mit der Gemeinde oder dem Kanton an. Die Fragen die im Raum stehen sind immer dieselben: Kann ich mir dieses oder jenes leisten? Kann ich die laufenden Rechnungen bezahlen? Kann ich mit meiner Familie, Freunden oder Bekannten etwas unternehmen? Kann ich meinem Kind die nötigen Schulunterlagen bezahlen? Ihm den Klassenausflug ermöglichen?
Wenn der/die betroffene SozialhilfeempfängerIn in einem Kanton lebt, der ein gutes Gesetz hat respektive die SKOS-Richtlinien vollständig übernimmt, dann kann sich die Person glücklich(er) schätzen. Solche gibt es. Doch diese werden immer weniger. Bürgerliche Parteien greifen die Sozialhilfe seit dem Jahrtausendwechsel an. Wörter wie »Sozialschmarotzer«, »Soziale Hängematte« und ähnliche haben im täglichen Alltag Einzug in unseren Wortschatz gefunden.
Rechtsgrundlagen für Sozialhilfe
Die Grundlage für die Sozialhilfe ist in der Bundesverfassung nachzulesen. So steht in Artikel 2. Abs. 2 »Sie fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes.« In Artikel 12 schreibt die Bundesverfassung vor, dass »jede Person, welche in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, Anspruch auf Hilfe und Betreuung hat und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind«. Dies sollte allen Bewohnenden in der Schweiz die Hilfe ermöglichen, die sie benötigen. In der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts in Lausanne wurde dieser Anspruch jedoch auf materielle Hilfeleistung beschränkt und Klagen gegen weitergehende Unterstützungen abgewiesen.
Auf sich selbst gestellt
Damit hat das Bundesgericht indirekt bestätigt, welchen Wert ein Menschenleben in der Schweiz hat. Maximal CHF 985.— pro Monat um Essen, Lesen, Kommunikation, Kleider und anderes zu erstehen. Die RichterInnen nehmen damit in Kauf, dass die Sozialhilfempfangenden laufende Rechnungen nicht zahlen, sich am sozialen Leben nicht beteiligen können, teilweise die Grundrechte eingeschränkt und dadurch isoliert werden.
Am Ende der Spirale der Armut bleibt einem Sozialhilfeempfangenden nur die Einsicht, dass er auf sich selbst gestellt ist. Die heutigen Gesetze und Verordnungen der Kantone sind zuwenig auf immaterielle Hilfe für sozial schwache Personen ausgerichtet. Rechte hat ein/e SozialhilfeempfängerIn. Es fehlen ihnen jedoch die finanziellen Mittel, um diese zu erstreiten. Denn diese Gelder musste die Person zuvor veräussern. Wie weiter?
Um eine gerechte Sozialhilfe zu erhalten resp. einzuführen und den Aktionismus der Kantone zu bekämpfen, bleibt dem Bund nichts andere übrig, ein Rahmengesetz zu erlassen. Das neue Gesetz sollte so ausgewogen sein, dass weder die Kantone noch die bürgerlichen ParlamentarierInnen «Nein» sagen können. Was am Ende einer Quadratur des Kreises gleich käme.
Ist damit die aktuelle Lage so zu akzeptieren oder gibt es einen Ausweg? Die Konstellation können wir nicht ändern. Diese ist, wie sie ist. Es gibt indes einen Ausweg. Die Armutsbetroffenen, die Sozialhilfeempfangenden und alle die sich für diese einsetzen, müssen laut werden: Ihre Scham überwinden, zusammen ihre Stimmen erheben und auf die Strasse gehen.
Weiter gilt, als Einzelperson nicht aufzugeben und bei den verschiedenen Beratungsstellen wie der Caritas, der unabhängigen Fachstelle für Sozialhilfe in Zürich oder bei den Gewerkschaften Hilfe zu holen. Damit wird der Druck auf die Politik, den Bund, die Kantone und Gemeinden erhöht. Nur so kann die Armut in den Fokus der PolitikerInnen und der Bevölkerung rücken. Zusammen können wir vieles erreichen. Packen wir das Eisen an und schmieden wir es zu unseren Gunsten!

Ein Kommentar zu „Die reiche Schweiz und die Armut

  1. Liebe Frau Fehri
    Netter Beitrag. Und stimmig. Realistisch. Es macht mich tieftraurig, wie mein Land mich im Stich gelassen hat, weil die Wirtschaft Leute wie mich gnadenlos und gleichgültig an den Staat entsorgt hat und weiter so handelt. Die Lage für Betroffene ist bedrückend. deshalb würde ich niemandem empfehlen, auf die Strasse zu gehen. Die Caritas (u.a. viele ähnliche „Sozialunternehmen“) verdient mit Coaching und Integrationsprogrammen gutes Geld mit der „Beschäftigung“ Betroffener. Die Behörden sind ratlos wie sie die Leute wieder in den „Arbeitsmarkt“ integrieren können (wieso sollte der, wenn man günstig importieren kann), ohnmächtig zu helfen, einbetoniert in ein stures gesetzliche Regelwerk. Viele Sozialhilfebetroffene kommen nur unter Zwang in diese „Programme“. Zähneknirschend. Frustriert. Nimm Teil oder wir kürzen als Strafe Deine 970.–. Der Druck geht also nur an die Sozialhilfeempfänger. Und als solche ist man im überlebens-Modus und keiner geht dann auf die „Strasse“. Maul halten und dürebisse. Nicht auffallen. Das ist unser nicht „aufgeben“ als Einzelperson. Hartz 4 in der Schweiz eben.

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