Die Intersektion von Armut und der Schweizer Migrationskontrolle

Diverse Schweizer Medien berichteten dieses Jahr über Anouchka Gwen, die bevorstehende Ausschaffung deren Mutter und der damit zusammenhängenden Proteste gegen die Kriminalisierung von Armut in der Schweiz. Leute wie die Mutter von Anouchka, welche vor 26 Jahren vom Kongo in die Schweiz migriert ist, können aufgrund von Sozialhilfebezügen aus der Schweiz ausgeschafft werden

Gleichzeitig dazu hat Gustavo Petro, der neuer Präsident Kolumbiens, angekündigt, als eine der ersten Amtshandlungen die Grenze zu Venezuela dauerhaft wiederzueröffnen. Somit wirkt er der Kriminalisierung der venezolanischen Migrant:innen entgegen und gibt der zum grössten Teil verarmten venezolanischen Bevölkerung die Chance auf eine bessere Zukunft – in einem Land, wo rund 40 % der Bevölkerung selbst in Armut lebt.

Was bedeutet es also, in der Schweiz arm und migrantisch zu sein? Wie kann es sein, dass Armut in einem Land kriminalisiert wird, das die Mittel besässe, um genau diesen Menschen zu helfen, während ärmere Länder dies nicht tun? 

Laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) müssen 2022 17% der Haushalte mit geringen bis sehr geringen finanziellen Mitteln auskommen. Es gibt mehrere Risikogruppen, die besonders gefährdet sind, in die Armut abzurutschen, wie beispielsweise von Frauen geführte Einelternhaushalte. Als Risikofaktoren gelten u. A. Bildung, Erwerbssituation und Herkunft: Geringe bis sehr geringe Mittel finden sich überdurchschnittlich häufig bei Personen aus einem nicht-europäischen Land.

Die Mutter von Anouchka Gwen ist Zugehörige der Risikogruppe: alleinerziehend, migrantisch, Arbeitende im Tieflohnsektor und nicht-europäisch. Seit mehr als einem Jahr steckt sie nun in einem Ausschaffungsverfahren, wobei das Amt für Migration und Bürgerrecht BL sie aufgrund ihrer Schuldenlast als Gefahr für die öffentliche Sicherheit betitelte. Sie kämpft bis heute vor Bundesgericht gegen den erneuten Entzug ihrer Aufenthaltsbewilligung.

Die Mutter von Anouchka ist kein Einzelfall. Deshalb hat die Basler Nationalrätin Samira Marti die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» im Nationalrat eingereicht, die fordert, dass den Menschen, die seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz leben und unverschuldet Sozialhilfe beziehen, nicht mehr die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden darf. Ende April stellte sich sie staatspolitische Kommission des Nationalrates zum zweiten Mal in Folge hinter Martis Initiative und will das «Abschiebungsgesetz» neu regeln.

Das Beispiel von Anouchkas Mutter zeigt, dass die Schweizer Sozialhilfe als Instrument der Migrationskontrolle fungiert und dass in der Schweiz statt die Armut selbst vielmehr die Armen bekämpft werden. Dadurch, dass Menschen, die über 15 Jahren in der Schweiz leben aufgrund Arbeitsplatzverlust, Unfall, Wirtschaftskrise, Krankheit, Scheidung, psychischer Gesundheit oder Pandemie Sozialhilfe beziehen müssen und von der Schweiz weggewiesen werden können, werden Familien auseinandergerissen. Menschen müssen aus einem Land ausreisen, das längst zu ihrer Heimat geworden ist. 

Diese aufenthaltsrechtliche Instrumentalisierung der Sozialhilfe bewirkt, dass ausländische Sozialhilfebezüger:innen diskriminiert werden und das Solidaritätsprinzip eines Sozialstaates ausgehöhlt wird. Für migrantische Personen heisst also Armut nicht nur, in eine existenzielle Notlage zu geraten, sondern eventuell auch das Ende ihres Lebens in der Schweiz. 

In Kolumbien ist Sozialhilfe kaum ein Thema – Hilfe vom Staat ist keine zu erwarten. Die Menschen helfen sich in Notlagen selbst über die Runden, indem sie informelle Tätigkeiten ausüben. Doch was bringt eine «funktionierende Sozialhilfe», wenn sie das Risiko einer Ausschaffung mit sich bringt? Was ist ihr Wert, wenn sie nur für bestimmte Menschen zugänglich ist? 

Über diese Themen sollten wir dringend nachdenken, denn eines steht fest: Migration und Armut werden durch deren Kriminalisierung nicht seltener, sondern nur prekärer.